Mittwoch, 19. September 2012

"Zukunft ohne Wachstum" - eine erste Diskussion in Hagen


(AS) Dr. Norbert Reuter, Mitglied der Enquete-Kommission der Bundesregierung und Wirtschaftsexperte des Ver.di-Bundesvorstands referierte am gestrigen Dienstag Abend vor vollem Saal in der Villa Post der Volkshochschule.
Sein Thema „Zukunft ohne Wachstum“ traf auf großes Interesse. Veranstalter war neben dem DGB, der VHS und Arbeit und Leben diesmal auch das Hagener Bündnis für eine Energiewende. Bereits zu Beginn stellte Reuter die Reduzierung des Wohlstands einer Gesellschaft ausschließlich durch das jährliche Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Frage. Er verwies u.a. darauf, dass das BIP erhebliche Teile gesellschaftlicher Arbeit gar nicht bewerten würde, wie zum Beispiel die geleistete Hausarbeit, obwohl sie ein wesentlicher Faktor gesellschaftlicher Arbeit ist. Da sie aber nicht bezahlt würde, würde sie auch nicht in Geldwerten erfasst und bliebe somit aus der Rechnung. Andererseits würden beispielsweise Reparaturkosten für einen verunglückten Zug berechnet, obwohl sie keine neuen Werte hervorbrächten. Hier gelte es über viele neue Fragen zu diskutieren und auch neue Aspekte wie aktuelle Glücksmessungen in die Diskussionen aufzunehmen. Reuter verwies auf 4 besondere Dilemmas der BIP-Wohlstandsmessungen. Das Verteilungsdilemma, einerseits immer höheres Wachstum zu schaffen, ohne dieses Wachstum gerechter in der Gesellschaft zu verteilen. Als aktuelles Argument führte er den aktuellen Reichtums- und Armutsbericht der Bundesregierung an, der noch einmal deutlich auf diese Problematik hinweist. Auch die Ausrichtung auf immer mehr Wohlstand wirft Fragen auf. Einerseits ist es möglich immer mehr Waren zu kaufen – andererseits würde dies eben auch negative Folgen für Mensch und Umwelt hervor bringen.

Beim so genannten Sinndilemma stellte er fest, dass für viele Menschen das Versorgungsniveau längst nicht auf dem gewünschten Stand sei – für andere aber durch die Erhöhung dieses Niveaus kein Anstieg des Wohlbefinden mehr nachweisbar wäre. Letztlich machte er auf das Umweltdilemma aufmerksam. Zum einen sei anhaltendes Wachstum ein Faktor für Stabilität, zum anderen aber als anhaltendes expotenzielles Phänomen auf einem begrenzten Planeten nicht möglich. „Wenn alle Menschen so leben würden wie die Menschen in den OECD-Staaten, bräuchten wir vier Erden“, stellte der Wissenschaftler dazu fest.
Im Rahmen seiner Ausführungen zeigte er bisherige Entwicklungen und mögliche weitere Perspektiven anhand vieler anschaulicher Beispiele und Folien dar. Im Blick auf die Arbeit der Enquete-Kommission verwies er darauf, dass dort alles andere als Einigkeit herrsche und es außerordentlich schwierig sei gemeinsame Positionen zu finden. Zu sehr lägen die Ansichten auseinander. „Es gibt Wachstumsoptimisten, die sich weiterhin vor allem an marktwirtschaftlicher Logik ausrichten, es gibt Pessimisten, die auf Kürzungen orientierten und soziale Standards als nicht mehr haltbar erklären.“ Seine Position beschrieb er als wachstumsrealistische Ausrichtung. Wachstumsraten gingen langfristig unumkehrbar zurück, die Verantwortung für ökologische und demografische Entwicklung seien ernst zu nehmen und die Politik müsse sich der Verantwortung für eine vernünftige und gerechte Verteilungspolitik bewusst werden. Die Erhöhung von Lebensqualität für alle Menschen durch mehr Freizeit und beispielsweise Verkürzung von Arbeitszeiten sind seiner Ansicht nach wichtige Ausrichtungen, die es in die Debatten aufzunehmen gelte.
Die Antwort auf die Frage, ob die Enquete-Kommission sich einer solchen Orientierung anschließen würde, fiel nicht viel versprechend aus. Aber die Diskussion gelte es zu führen und dabei könnten Veranstaltungen wie in Hagen einen Beitrag leisten. Eine abschließende Antwort auf die Eingangsfrage, ob Zukunft ohne Wachstum möglich sei blieb offen und soll auch in Hagen weiter diskutiert werden.

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